GEW Unterfranken in Berlin:
"Das gegliederte Schulwesen bricht an seinem schwächsten Glied"

Berliner Hauptschüler, die engagiert lernen, sich freundlich den fremden Besuchern als kompetente Führer durch die Schule anbieten und liebevoll von "ihrer" Hauptschule sprechen? Berliner Hauptschullehrkräfte, die gerne in ihre Schule gehen, sich als motivierte Dozenten einer Fortbildung 25 Kolleginnen und Kollegen aus Unterfranken anbieten, die ihre Ziele kennen und begeistert in ihre Schule gehen? Angesichts der Nachrichten aus der Berliner Rütli-Hauptschule, die ihr Scheitern eingestand und den Senat zur Schließung der Schulart Hauptschule aufforderte, fast unglaublich. Aber an der Werner-Stephan- und an der Heinrich - von - Stephan - Hauptschule in Berlin ist das tägliche Wirklichkeit.

Der Bezirksverband Unterfranken der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hatte als Ziel einer Bildungsfahrt zwei Hauptschulen in Berlin gewählt und Förder-, Haupt-, Realschul- und Gymnasiallehrkräfte aus Unterfranken mit auf eine Bildungsreise genommen. "Im Rahmen unserer Fortbildungsreihe "Bildung anders" suchen wir uns immer wieder Schulen aus, die Vorbildfunktion haben. Diesmal sind wir in Berlin fündig geworden", so Rudolf Brandenstein, Organisator der Fahrt, Vorsitzender der Würzburger GEW und stellvertretender Vorsitzender der GEW Unterfranken.
In der Heinrich-von-Stephan-Hauptschule in Berlin Mitte unterrichten zwei Lehrkräfte eine Klasse. Dafür werden alle Förderstunden eingesetzt. In den Klassen sitzen Haupt- und Realschüler gemeinsam. Die Schüler lernen z. B. jede Woche ein Gedicht, haben geregelte Lernprogramme und überwachen ihren Lernfortschritt gemeinsam mit den Lehrkräften. Dazu unterziehen sie sich ständig Tests, die allerdings nicht nur der Notenfindung dienen, sondern jedem Einzelnen zeigen, was er schon kann, und was er noch dazu lernen muss. Schülerinnen und Schüler erhalten halbjährlich eine Rückmeldung, ob sie in einem Fach Hauptschulniveau oder Realschulniveau erreicht haben. "Der Erfolg bei PISA 2003 gibt uns die Möglichkeit, Lehrpläne zu ignorieren und unsere Ziele selbst zu bestimmen," äußert sich Schulleiter Jens Großpietsch selbstbewusst. "Gerade diese Durchlässigkeit ohne Gesichtsverlust zwischen Haupt- und Realschule ist das Geheimnis des Erfolges," sagt der Würzburger Kreisvorsitzende Rudolf Brandenstein dazu. "Damit wird kein Kind beschämt und keines zurückgelassen, weil nicht ausgelesen, sondern gefördert wird. Alle Schüler, mit denen ich gesprochen habe, bestätigen dies."

In der Werner-Stephan-Schule in Tempelhof, dem zweiten Ziel der GEW-Delegation, sind 25 Prozent der Schülerinnen und Schüler systematisch ausgebildete Streitschlichter und Vertrauensschüler in einer Person. Damit übernehmen sie Verantwortung für ihre Schule, ihr Verhalten und ihr Lernen. "Wir haben dieselbe problematischen Schülerschaft wie vor 30 Jahren," sagt Vertrauenslehrer Haag, "Aber heute haben wir Konzepte dafür." Damit meint er Doppelführung des Unterrichts und das jährlich neu erarbeitete "Schulversprechen" der Schülerschaft. Einen wesentlichen Anteil am Gelingen des Schulkonzept haben die Schülerfirmen. Jeden Freitag findet der Unterricht für die 10. Klassen einer der schuleigenen Firmen statt. So wurden auch die Würzburger Lehrkräfte in der Kantine, die von einer der 5 Schülerfirmen bewirtschaftet wird, mit einem dreigängigen Menu versorgt. Schüler mit Behinderungen sind an der Werner-Stephan-Schule bestens integriert, was nach Meinung von Rudolf Brandenstein "bei solch einer guten personellen Ausstattung auch kein Problem darstellt!"
Das Gemeinsame des Erfolges der beiden besuchten Schulen ist das Vorgehen aller Lehrkräfte hinsichtlich des Unterrichtens, des Erziehens und der Konsequenzen bei abweichendem Verhalten. Dennoch sei das Scheitern der Rütli-Hauptschule kein lokales Berliner Symptom, so Brandenstein. "Das in vier Schularten gegliederte Schulsystem mit seinem Zwang zur frühen Auslese scheitert mit seinem schwächsten Glied, der Hauptschule." Dem stimmt die ehemalige Berliner Bildungssenatorin Sybille Volkholz (Bündnis 90/ Grüne) im abschließenden Gespräch mit den Gästen aus Unterfranken zu: "Ein System misst sich an der Durchlässigkeit der Gruppen." Aber in Bayern steigen zehn aus Gymnasium und Realschule ab für einen, der aufsteigt. Durch die Einführung der Realschule ab der 5. Klasse und die Selektion von Hauptschülern in Regelklassen und Klassen mit M-Niveau zementiert Bayern gerade das, woran Berlin leidet. "Ein System, das nicht durchlässig ist und Schullaufbahnentscheidungen so früh verlangt ist schlecht. Hier sind, jedenfalls für die Hauptschulen in den Großstädten, Probleme wie an vielen der 55 Berliner Hauptschulen vorprogrammiert" meinte Brandenstein in Übereinstimmung mit den Berliner Schulleitern und den Teilnehmern der Bildungsfahrt. "Eine Schule für alle bis zur 10. Klasse ist unsere Forderung, über den Weg dorthin werden wir mit allen, die offen dafür sind, verhandeln."

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