Lernatlas lenkt bewusst ab

Leserbrief MAIN-ECHO, 29.11.2011

Ganz toll! Der Landkreis Main-Spessart findet sich im sogenannten Lernatlas 2011 der Bertelsmann-Stiftung auf Rang eins und die Stadt Aschaffenburg auf Platz zwei. Da kommt Freude auf.

Natürlich sollen sich beide freuen. Auf nationaler Ebene in einem Ranking positiv aufgefallen, das ist schon was. Untersuchungen aber, die sich auf Schule, Lernen, Bildung beziehen, gab es in den letzten Jahren viele. Die Frage für mich ist: Was bringt der Bertelsmann-Lernatlas Neues? Neu ist: Er beschäftigt sich eigentlich überhaupt nicht mit Schule. Er stützt sich, was die Leistungsmessungen betrifft, auf Altbekanntes, zum Beispiel auf die Pisa-Studien. In Umkehrung des Spruchs »Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir« sagt die Bertelsmann-Stiftung: »Nicht in der Schule lernen wir, sondern im Leben«, also bei der Freiwilligen Feuerwehr, im Kirchenchor, beim Blutspenden oder bei einem Museumsbesuch.

Der Lernatlas betrachtet vor allem außerschulische Lernangebote. Wenn man die Lerngeografie so weit ausdehnt, dann spielen die politisch harten Themen der Bildungspolitik, nämlich Klassengrößen, Schulstruktur, gemeinsames oder getrenntes Lernen keine Rolle mehr. Der Lernatlas lenkt von diesen entscheidenden Streitfragen sogar bewusst ab.

Mehr privates Geld für Bildung

Doch auch Bertelsmann will »mehr Geld für Bildung«. Mehr Geld bedeutet bei Bertelsmann aber »mehr privates Geld«. Bildung ist laut der Studie »Human- und Sozialkapitalfaktor«. Investitionen in Bildung wird daran gemessen, wie viel Dividende sie für den Einzelnen oder für eine Gesellschaft bringt. Lernen ist »Mittel zum Zweck«, um »glücklich und reich« zu werden und das »soziale und wirtschaftliche Wohlergehen« einer Region zu steigern. Entscheidend sei, »was jeder Einzelne für sich selbst tut«. »Persönliches Lernen« ist nach der Bertelsmann-Lesart nichts anders als die Abwandlung der ultraliberalen Parole: Jeder ist seines Glückes Schmied. Das Kind eines arbeitslosen Migranten im Ruhrgebiet wird im Lernatlas als Bildungsversager stigmatisiert, weil es nicht Mitglied in einer Bergmannskapelle ist.

Die Bertelsmann-Stiftung, das Flaggschiff der Privatisierer öffentlicher Einrichtungen, hat mit dem Lernatlas wieder einen Coup gelandet, jede Zeitung schreibt darüber, und jede Stadt, jeder Landkreis sucht begierig seinen Rangplatz. Übersehen wird dabei die Stoßrichtung der Stiftung: täuschen und von den eigentlichen Bildungsthemen ablenken.

Albrecht Sylla, Flemingstraße 28, Hösbach