“Nichts mehr zu sagen und nichts zu beweinen”

Ausstellung über den jüdischen Friedhof Rödelsee im Rathaus / Familienschicksale

as. ASCHAFFENBURG. Eine Zeile aus einem Gedicht Allen Ginsbergs steht als Motto über einer Ausstellung, die aus Anlaß des 60. Jahrestages der Pogromnacht vorgestern abend im Lichthof des Aschaffenburger Rathauses eröffnet wurde: “Nichts mehr zu sagen und nichts zu beweinen” ist das Leitmotiv der Dokumentation über den jüdischen Friedhof Rödelsee bei Würzburg. Kernstück der Ausstellung sind acht Grabsteine (die Zahl acht bedeutet in der jüdischen Mystik “unendlich”), die als fotografische Reproduktionen in Originalgröße in der Mitte des Ausstellungsraumes stehen. Doch nur vordergründig geht es um die Steine. Letztlich stehen die Menschen im Mittelpunkt. Der Fotograf und Ausstellungsdesigner Christian Reuther und der Historiker Michael Schneeberger haben die Familiengeschichten der Verstorbenen recherchiert und bis in die jüngste Generation nachgezeichnet. Das Leben und das Sterben der verschollenen, verfolgten, in die Emigration getriebenen oder ermordeten Menschen zeigt exemplarisch auch die Geschichte dieses Jahrhunderts.

Ein Bündnis mehrerer Organisationen hat es möglich gemacht, diese Ausstellung, die seit 1993 bereits in vielen deutschen Städten zu sehen war, nach Aschaffenburg zu holen. Die Initiative ging von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) aus, die als Mitveranstalter den Förderkreis “Haus Wolfsthalplatz”, den Verein Schule und Erziehung, die Initiative gegen Rechtsradikalismus und Ausländerhaß sowie den Deutschen Freidenkerverband gewinnen konnte. Die Schirmherrschaft hat Oberbürgermeister Willi Reiland (SPD) übernommen.


Der Vater im Arbeitslager

Reinhard Frankl von der GEW nennt ein ganz persönliches Motiv für sein Engagement. Sein Vater war als Halbjude gezwungen worden, während des Zweiten Weltkrieges Dienst im Zwangsarbeitslager zu leisten. Frankl erinnert sich, daß der Vater noch Ende der fünfziger Jahre in seinem Lebenslauf jene Zeit folgendermaßen beschrieb: Er sei vorübergehend in Aschaffenburg abwesend gewesen, weil er Aufgaben mit besonderer politischer Bedeutung wahrgenommen habe. Nicht nur um diese Form der Verdrängung geht es Frankl. Er möchte erreichen, daß die Menschen aus der Geschichte lernen und sich auch der Bedeutung des Judentums für die europäische Kultur bewußt werden.


Dokumente der Zerstörung

Reuther war noch während seines Studiums 1989 beauftragt worden, den 1563 angelegten Friedhof Rödelsee zu fotografieren. Die Inventarisierung der rund 2500 Grabsteine wird erst in diesem Jahr beendet werden. Als sich im Frühjahr 1990 die Nachrichten über Schändungen jüdischer Begräbnisstätten häuften, sei die Idee zu der Ausstellung entstanden, sagt Reuther. Fotografien geschändeter jüdischer Friedhöfe und Gedenkstätten finden sich ebenfalls in der Ausstellung.

Dokumentiert wird in der Schau auch die Zerstörungsgeschichte eines einzigen, beispielhaft vorgeführten Steins des Rödelseer Friedhofs, des Waschtisches, der den Frauen der Chewrah Kaddischa (“Heilige Gesellschaft”) und den Mitgliedern der gleichnamigen Bruderschaft bis 1938 für die Leichenwäsche diente. Nachdem das Friedhofshaus (Taharah-Haus) 1938 von der SA in Brand gesetzt worden war, blieb der Waschstein zunächst in der Ruine und wurde nach Abriß des Hauses 1950, versehen mit einer mahnenden Inschrift, aufrecht stehend in das Fundament eingelassen. In den sechziger Jahren ist der Gedenkstein umgestürzt. 1981 wurde er von unbekannten Tätern endgültig zerstört und 1985 durch einen polierten schwarzen Granitstein ersetzt. Für Reuther ist das Schicksal dieses Gedenk- und Mahnmals exemplarisch für den Umgang mit der jüngsten Vergangenheit in diesem Land.

In die Gegenwart weist die zweite Hälfte der Ausstellung nicht nur am Beispiel des früheren Leichenwaschsteins, sondern auch an Hand der Porträts von acht ausgewählten Familien, zu denen Schneeberger eindringliche Texte geschrieben hat.

Die Biografien handeln von dem normalen Leben in einer idyllischen Weinbauregion sowie von Tod und Emigration. In der Gegend um Kitzingen hatten sich Juden seit dem Ende des 11. Jahrhunderts niedergelassen. Aus diesem eher ländlichen Milieu stammten auch die Familien von Erich Fromm und Henry Kissinger. Viele Juden waren im Weinhandel tätig. So auch der Weinhändler Max Fromm, der den Bocksbeutel als Markenzeichen für fränkischen Wein eingeführt und die dazugehörigen Etiketten vom Direktor des Städtischen Kunstinstituts in Frankfurt hatte entwerfen lassen.

Zentrum der Ausstellung sind die großformatigen Grabsteine vom Friedhof Rödelsee, deren fortschreitenden Verfall die Ausstellungsmacher als Metapher für das Verschwinden der Erinnerung an diese Menschen interpretieren. Den Steinen gegenüber stehen acht Texttafeln, die den historischen, sozialen, religiösen und lokalen Kontext skizzieren. Die Grabsteine und Schrifttafeln sind ausgerichtet auf ein 3,60 auf 2,20 Meter großes Gruppenbild von sieben Frauen, die als Mitglieder der letzten Beerdigungsschwesternschaft (Chewrah Kaddischa) des Friedhofsbezirkes Kitzingen Kranke betreuten, Sterbenden beistanden und Tote würdig begraben ließen. Elf der 17 Frauen kamen in Lagern ums Leben. Eine Frau liegt in Rödelsee und eine in Würzburg begraben. Nur vier überlebten den Krieg oder wanderten rechtzeitig aus.

FAZ 10.11.1998, Seite 59