Nicaragua in Pink
christlich - sozialistisch - solidarisch

Die Empfangshalle elegant, der hellgraue Fußboden auf Hochglanz poliert. In Gold die Lettern "Aeropuerto Internacional Augusto César Sandino." José Antonio Zepeda, Vorsitzender der einflussreichen nicaraguanischen Lehrergewerkschaft ANDEN umarmt uns fest. Wir sind bei Freunden. Auch der Chauffeur Martín, seit Jahren bei Anden, begrüßt uns wie Familienangehörige. Gelassen steuert er den herunter gekühlten Pick Up durch die stark befahrenen Straßen der Hauptstadt. Über 1,25 Millionen Menschen leben heute in Managua, das sind etwa ¼ der Bevölkerung des Landes. Ein weiteres Viertel der Nicaraguaner lebt aus wirtschaftlichen Gründen im Ausland, vor allem in Costa Rica und den USA. Wir haben für die Kindertagesstätte "Hermandad Sindical", dem ANDEN- Projekt in Juigalpa, 15.000 Euro in bar dabei, Spendengelder des Aschaffenburger Nicaragua-Komitees. Seit 1991 finanzieren die Aschaffenburger das Projekt. Der Bargeldtransfer ist noch immer die kostengünstigste Variante. Für Überweisungen kassieren die Banken horrende Gebühren. Möglichst schnell soll das Geld zur Einzahlung. An der Rotonda Güegüense, fast in Sichtweite der Deutschen Botschaft, CGTEN-ANDEN, die Zentrale der Gewerkschaft. Zum 30. Jahrestag der Alphabetisierungkampagne, der "Gran Cruzada Nacional de la Alfabetización", im August 2010, hat die Fassade des Gebäudes einen neuen, hellgrünen Anstrich bekommen. Plakativ das Logo der Gewerkschaft und der Satz "Nach dem ersten Schritt werden wir nie mehr aufhören zu gehen!" Die 100 Meter zur Bank fahren wir mit unserer alten Freundin Antonia Vílcez, Finanzsekretärin von ANDEN, im Wagen. In Managua zu Fuß gehen, mit Geld in der Tasche, das sei zu riskant. Die Banken akzeptieren mittlerweile Euros. Nur wird jeder einzelne Schein unter die Infrarotlampe gelegt. Zwei Tage später verlassen wir Managua. José Antonio und Martín bringen uns nach dem 140 km entfernten Juigalpa in der Provinz Chontales, dem Zentrum der Rinderzucht. Rindfleisch und Kaffee sind die wichtigsten Exportprodukte. Das Grün der Berge ist wohltuend. Zu sehr waren die Augen von den überbordenden Werbetafeln in Managua beansprucht. Werbung für Banken, Automarken, Supermärkte und BAYER zum Beispiel. Nicht zu vergessen die gigantischen pinkfarbenen Plakatwände der "Regierung der Versöhnung und nationalen Einheit: christlich, sozialistisch, solidarisch!". Überall im Land lächelt Präsident Daniel Ortega dem Volk zu. "El pueblo presidente!", das Volk ist Präsident. Ortega präsentiert sich in einer Reihe mit den Nationalhelden Andrés Castro, Rubén Darío und Sandino. Bei allem Respekt, aber Ortega neben dem Dichterfürsten Darío? Das ist gewagt.

Wer den Präsidenten je bei einer seiner "Pressekonferenzen" erlebt hat, weiß, wie unsortiert und floskelhaft er spricht. Journalistenfragen sind nicht erwünscht. Ortega gibt der heimischen Presse keine Interviews. Der Platz der Revolution vor der alten Kathedrale in Managua ist an allen vier Seiten mit den Pueblo-Presidente-Ortega-Megapostern bestückt. In der Mitte des Platzes weht die blau-weiß-blaue Nationalfahne, unglaublich groß. Den angrenzenden protzigen Präsidentenpalast, von Arnoldo Alemán, Ortegas wegen Korruption verurteiltem Vorgänger Ortegas erbaut, hat die sandinistische Regierung in "Palast der Völker" umbenannt. Ortega residiert in seinem Privathaus bzw. der angrenzenden Zentrale der Frente Sandinista de Liberación Nacional. Seit Januar 2007 ist er mit der FSLN wieder an der Macht, und im nächsten Jahr sind Wahlen. Da möchte er wieder kandidieren, muss dazu aber noch die Verfassung ändern, die eine Wiederwahl verbietet. Um in der Nationalversammlung hierfür eine ausreichende Mehrheit zu haben, fehlen ein paar Stimmen aus anderen Parteien. Aber die wird Ortega wohl bekommen, so wie es den Sandinisten in Absprache z.B. mit Alemáns Liberalen schon gelungen ist, den obersten Gerichtshof, den obersten Wahlrat und andere entscheidende Gremien mit eigenen Leuten zu besetzen. José Antonio Zepeda, selbst überzeugter Sandinist und Parlamentsabgeordneter, ist stolz auf seine Regierung. Wir sind jetzt an der Macht, wir setzen die Revolution fort, in ihrer zweiten Etappe, meint er. Im Erziehungsministerium gäbe ANDEN die Linie vor. Hängt damit auch zusammen, dass in diesem Jahr der Erziehungsminister Miguel de Castilla, Soziologe, Erziehungswissenschaftler und ANDEN- Gründer seinen Hut nehmen musste? War er nicht ausreichend linientreu? Man spricht nicht mehr über ihn. Viel lieber werden die Erfolge der revolutionären Regierung besungen: der Bau neuer Schulen und jetzt auch Kindertagesstätten, eine Gehaltserhöhung für Lehrkräfte, die höher ausfiel als in den ganzen 16 Jahren der neoliberalen Regierungen zusammen, der "bono social" in Höhe von rund 25 US $ monatlich für alle staatlich Angestellten, der "bono productivo" (eine Kuh, ein Schwein, Hühner, Saatgut) für tausende Familien zur Armutsbekämpfung zum Beispiel. Woher das Geld für diese Wohltaten kommt? Letztendlich aus dem Erdölgeschäft mit Venezuela. Über das venezolanisch-nicaraguanische Unternehmen ALBANISA kauft Nicaragua Öl. Die Hälfte muss innerhalb von 90 Tagen zum Weltmarktpreis bezahlt werden, für 25 Prozent ist das Zahlungsziel in 25 Jahren bei einem Jahreszins von 2 Prozent. Weitere 25 Prozent der Kaufsumme fließen in den so genannten "fondo ALBA", aus dem "soziale Projekte" in Nicaragua finanziert werden. Solche Projekte sind z.B. Schul- und Straßenbauten, Häuser für die Ärmsten und eben auch der Lohnzuschuss für die Beschäftigten des Staates. Da ALBANISA ein Privatunternehmen ist, gibt es keine Transparenz. Aber es sitzen Ortega-Vertraute in den Leitungsgremien. Die venezolanische Zeitung El Universal beziffert allein die Gewinne aus den ALBANISA- Geschäften der letzten drei Jahre auf über 1,2 Milliarden Dollar.
Die Kindertagesstätte von ANDEN in Juigalpa zeigt sich von ihrer besten Seite. Fassaden neu gestrichen, Büro gebaut und eingerichtet, Küche erweitert, Toiletten neu und der große Wasserbehälter auf seinem Turm. Drei Kolleginnen arbeiten in der Einrichtung, die von 36 Kindern zwischen einem und 5 Jahren besucht wird. Ein Staatszuschuss wird den Besuch bald kostenfrei machen. Dann werden mehr Mütter ihre Kinder anmelden wollen. Über einen Erweiterungsbau denken die agilen Gewerkschafterinnen von ANDEN in Juigalpa schon nach. Sie nutzen die Gelegenheit, uns ihre Pläne vorzustellen, für die sie Unterstützung suchen: neue Geräte für den Spielhof, Stühlchen, Bettchen, Kühl-Gefriereinheit in der Küche, einen getrennten Schlaftrakt, den Kauf eines Kleinbusses, die Anstellung einer weiteren Pädagogin und eines Hausmeisters. Das ist viel; wir diskutieren lang die Finanzierungsmöglichkeiten. Vor dem Gebäude, zur Straße hin prangt pink eine der großen Plakatwände mit dem Namen der Tagesstätte und dem Motto "el pueblo presidente - programa amor." Sieht fast so aus, als hätte der Staat das "Centro de Desarrollo Infantil" übernommen. Die Regierung unterstützt seit neuem das C.D.I. mit etwa 400 Dollar im Monat. Pink ist überall dort, wo die Regierung in irgendeiner Form beteiligt ist. An den meisten staatlichen Einrichtungen weht zusätzlich die schwarz-rote Flagge der Regierungspartei FSLN. Wie weit die Durchdringung der öffentlichen Institutionen seitens der sandinistischen Partei geht, dafür zwei Beispiele: Allen Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wurde dringend nahe gelegt, das "FSLN-carnet" zu beantragen, d.h. in die Partei einzutreten. Mit dieser "carnetización" konnte die Partei einen enormen Mitgliederzuwachs verbuchen. Und wer nicht wollte? Die Regierung schenkt dir den "bono social", wie kannst du da gegen uns sein? In den Schulen erteilen Lehrer im Rahmen des Programms "Sandino II" auf "freiwilliger" Basis am Wochenende politischen Unterricht. Der Gewerkschaftsvorsitzende Zepeda dazu: "Das Programm wurde gemeinsam von ANDEN, dem Erziehungsministerium, der FSLN und der Regierung erarbeitet. Wir laden alle Lehrkräfte ein, sich solidarisch mit der sandinistischen Bewegung an diesem Projekt zu beteiligen". Mario Quintana, Zepedas Vorgänger, heute in einer unabhängigen Bürgerbewegung engagiert, sieht das anders: "Parteipolitik hat in den Schulen nichts zu suchen". Wenn das nur so wäre. Escuela Normal "Gregorio Aguilar Barea" Juigalpa, Ausbildungsstätte für Lehrer, Feier zu Beginn des neuen Lehrgangs: die Aula festlich geschmückt, Nationalfahne, Fahne der FSLN und die bekannten Slogans der Regierung natürlich in pink. Auf dem Podium Schulrätinnen, die Leitung der Bildungsstätte, Vertreter des Ministeriums, der Studierenden und der Sandinistischen Jugend. Alle besingen sie die Linie der revolutionären Regierung. Aus den Lautsprechern Kampflieder der 80ger- Jahre. Erinnert wird an den "Kreuzzug der Alphabetisierung" damals. In der zweiten Etappe werde jetzt die "Schlacht um die sechste Klasse" geführt, ein Projekt in dem bis 2012 alle Bürger des Landes mindestens das Bildungsniveau der sechsten Jahrgangsstufe erreicht haben sollen. Die Studierenden werden auf dieses Ziel eingeschworen. "Ihr seid Teil der Revolution, Teil der sandinistischen Bewegung. Dazu braucht ihr keinen Ausweis, als Lehrer gehört ihr einfach dazu." So der Vertreter der sandinistischen Jugend. Die sehr jungen Studenten hören geduldig zu. Munter werden sie erst bei den anschließenden Tanzvorführungen.
Dennis Báez Orozco, Geschäftsführer von CENIDH in Juigalpa, der wichtigsten Menschenrechtsorganisation des Landes, bestätigt unseren Eindruck bezüglich der parteipolitischen Durchdringung aller Institutionen. Mehr noch: Es gäbe keine Kultur der Kritik. Kritiker würden ausgegrenzt und als Feinde abgestempelt. Das träfe auch die Vertreter von Menschenrechtsorganisationen. Wenn man in Nicaragua etwas werden wolle, müsse man das Parteibuch haben. Die FSLN habe mit vielen ihrer Ziele gebrochen. Als ein Beispiel nennt er das in der Verfassung verankerte Verbot der Wiederwahl des Präsidenten. Die revolutionären Töne seien auf weite Strecke nichts als leere Phrasen. Die viel besungenen sozialen Regierungsprojekte warteten auf eine kritische Bewertung. Die Gewerkschaft ANDEN habe sich zu einer sandinistischen Richtungsgewerkschaft zurückgebildet und sei Transmissionsriemen der orteguistischen Regierungspolitik geworden, habe jedoch im Erziehungsministerium großen Einfluss. Tatsächlich ist aus Gewerkschaftskreisen keine Kritik an Ortega zu vernehmen. Bei kritischen Fragen zur Regierungspolitik unsererseits, wird sofort und heftig eine Verteidigungshaltung eingenommen.
In der Stadt Masaya treffen wir auf die Dichterin A. I. (den Namen möchte sie aus Furcht vor Anfeindungen hier nicht genannt wissen), ihre Familie und Freunde. Alle waren in den Revolutionsjahren kämpferische Sandinisten. Sie beobachten genau, stellen viele Fragen, kritisieren. Alles aber privatissime. Von den Erfolgen der Regierung sei im normalen Leben für sie nichts zu spüren. Gut, die Stromausfälle sind weniger geworden, dafür kommt Wasser noch immer nur für wenige Stunden aus der Leitung. Die vorherrschende Stimmung gegenüber der Politik? Enttäuschung, Lähmung oder Wut. Es fehlten Offenheit, Ehrlichkeit, Kritikbereitschaft und Neubesinnung im Land. Man könne die rigide Freund-Feind-Einteilung der Gesellschaft und die unzureichenden Ergebnisse der Politik nicht immer nur mit den vergangenen 16 Jahren neoliberaler Regierungspolitik begründen. Ortega sei ein Präsident, der sich eingekapselt habe und sich von Feinden umgeben sähe. Er und seine Getreuen hatten Stück um Stück die staatlichen Institutionen erobert, zum Teil mit rabiaten Methoden. Die sich sandinistisch nennende Regierung könne aber nicht überzeugen, geschweige denn die Menschen begeistern. Christlich, sozialistisch, solidarisch? Nur auf dem Etikett!
Das klingt alles sehr ernüchternd. Wie nun weiter mit unserer Projektarbeit in Nicaragua? Ich meine, und da wurde ich von allen Freunden außerhalb der sandinistischen Szene unterstützt, auch vom CENIDH- Vertreter, wir müssen die Finanzierung der Kindertagesstätte in Juigalpa fortsetzen, solange diese sich nicht selbst trägt oder ganz vom Staat unterhalten wird. Wir sind den Müttern und ihren Kindern gegenüber eine Verpflichtung eingegangen. Gleichzeitig muss der enge und freundschaftliche Kontakt zur Lehrergewerkschaft ANDEN fortgesetzt werden. Die jahrzehntelange kollegiale Partnerschaft wird es doch zulassen, sich mit dem politischen Weg der Gewerkschaften und der Entwicklung in Nicaragua kritisch auseinanderzusetzen und auch mit ANDEN zu streiten. Wer sonst kann sich denn auf dieser Ebene und in der Form engagieren? Die europäischen Nicaragua-Unterstützer, vor allem wenn in den Gewerkschaften beheimatet, sind besonders gefordert. Wir stehen am Vorabend des Wahljahres 2011. Und die sandinistische Regierung gefährdet mit ihrer Politik massiv das eigene Projekt einer "sozialen Revolution".

September 2010, Albrecht Sylla, Nicaragua-Komitee Aschaffenburg