Wozu noch Gewerkschaften?
Christoph Jünke in SoZ – Sozialistische Zeitung
Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Eine
Streitschrift, Göttingen: Steidl, 2004.
B.Riexinger/W.Sauerborn: Gewerkschaften in der Globalisierungsfalle. Vorwärts
zu den Wurzeln! Hamburg, VSA, 2004.
Es dürfte schwer fallen, das neue Buch von Oskar
Negt ohne große Emotionen zu lesen. Wenn es einen deutschen linken
Intellektuellen gibt, der für die neuesten sozialen Bewegungen eine
vergleichbare Rolle hätte spielen können wie Pierre Bourdieu für die
französischen, so er. Anfang/Mitte der 90er war es dann auch Negt, der für
Furore in den großen Medien sorgte, als er gegen den entfesselten
Raubtierkapitalismus wetterte und dem neuen gesellschaftspolitischen Unmut eine
Sprache lieh. Doch seine persönlichen wie politischen Bindungen an den
Hannoveraner Kanzler in Wartestellung — seinerseits, das muss selbstkritisch
eingeräumt werden, Ausdruck eines historisch tiefer liegenden Problems, dass da
heißt: die (west-)deutsche Linke — haben ihm und uns einen Strich durch die
politische Rechnung gemacht. Seine 1998 veröffentlichte Streitschrift für die
SPD markierte sicherlich den Tiefpunkt dieses linken politischen
Intellektuellen. Dass er trotzdem ein intellektuelles Schwergewicht geblieben
ist, das rechts liegen zu lassen grundverkehrt wäre, zeigte schon seine
monumentale Studie Arbeit und Menschenwürde (2001, vgl. SoZ 5/02).
Glanz und Elend dieses Denkers werden nun erneut sichtbar in seiner kleinen
Streitschrift zur Krise der Gewerkschaften. Negt interpretiert diese im Kontext
seiner Diagnose einer gesellschaftspolitischen und kulturellen Erosionskrise,
die eben auch die Gewerkschaften treffe. Mit Verve geißelt er den neoliberal
entfesselten Kapitalismus und beklagt ein Gesellschaftsklima, in der »die Frage
nach den Zwecken und dem Lebenssinn fortwährend in Rechtfertigungsnot gerät«.
Und er erinnert die Gewerkschaften an ihre ureigenste Aufgabe: »Solange
Kapital- und Marktlogik die Realitätsdefinitionen dieser Gesellschaft vorgeben,
haben Gewerkschaften gleichsam den historischen Auftrag, die Lebensinteressen
jener Menschen kollektiv zu vertreten, die als vereinzelte und in isolierter
Konkurrenz kämpfende Individuen nicht fähig sind, aus eigener Kraft (ohne
solidarische Hilfe anderer) würdige Lebensbedingungen herzustellen.«
So radikal Negt an die Wurzel der Probleme geht — und was er zur notwendigen
Veränderung der Gewerkschaftsformen zu sagen hat, ist nicht minder radikal und
treffend (Stichwort: neue soziale Gewerkschaftsbewegung) —, immer wieder
bricht allerdings seine Bindung an die neoliberal Regierenden und ihre
gewerkschaftlichen Komplizen durch. Die Rolle der Gewerkschaftsführungen und
ihres bürokratischen Apparats, das Problem des Widerspruchs zwischen
Bewusstsein und Interesse, Ideologie und Tat, wird vollkommen ignoriert, die
Taten und Verantwortung rot- grüner Politiker vollständig verschwiegen. Die
Bösen, das sind immer nur die Konservativen und Liberalen, und gelegentlich
Karl Marx, weil ausgerechnet der für bürokratische Funktionärshaltungen
verantwortlich zu machen sei.
Über weite Strecken kommt die Schrift daher, als verharre Negt noch in den 80er
Jahren. Trotzdem, welcher Intellektuelle seines Einflusses würde noch heute
einen Satz formulieren wie: »Wer nicht die Herrschaftsverhältnisse als Ganzes
abschaffen will, wird sie auch in ihren Teilaspekten nicht überwinden
können.«
Auch Bernd Riexinger und Werner Sauerborn sehen den zentralen Widerspruch
gewerkschaftlicher Politik im Auseinanderklaffen von mikro- und
makroökonomischer Rationalität. Stärker jedoch als Negt arbeiten sie heraus,
dass dieses Auseinanderklaffen sich innergewerkschaftlich widerspiegelt in einer
fortschrittlichen Rhetorik gegen Sozialabbau und Lohnverzicht auf der einen, und
der gleichzeitigen permanenten Organisierung desselben Prozesses (Co-Management)
auf der anderen Seite.
Die Gewerkschaften müssen, so die Autoren, im Bruch mit ihrer bisherigen Praxis
ihre Konfliktfähigkeit politisieren, mindestens Elemente einer radikalen
Kapitalismuskritik reaktivieren, gesellschaftspolitische Alternativprogramme
entwickeln und Tariffragen zu Gesellschaftsfragen machen. Sie müssen autonom
werden und sich von der betrieblichen Ebene und ihren Kämpfen ausgehend
erneuern. Doch gerade dies, so ihre zentrale These, werde nicht funktionieren,
wenn sie nicht gleichzeitig gewerkschaftliche Schutzpolitik europa- und weltweit
neu organisieren. Die Überwindung von ökonomischer und sozialer Konkurrenz
innerhalb der Arbeiterklasse kann unter globalisierten Bedingungen nur noch
ebenso global, entlang von Wirtschafts- und Branchengrenzen und nicht von
Nationalstaaten, vonstatten gehen (vgl. nebenstehenden Artikel).
Die diesen Folgerungen zugrundeliegende Analyse der Globalisierungsprozesse mag
strittig sein, sie verdeutlicht aber die strukturellen Dilemmata der
Gewerkschaftspolitik und zeigt, dass und wie Gewerkschaftspolitik und
Gewerkschaftstheorie integraler Bestandteil einer zeitgenössischen politischen
Ökonomie des »Turbo«-Kapitalismus sind.
(31.01.2005) © 2005. Alle Rechte liegen bei den AutorInnen bzw. bei den Publikationen/Verlagen