Angst vor dem Absturz

Norbert Höfler, STERN, 13. Februar 1997, S. 48

Ein Viertel der Bevölkerung wird seinen Lebensstandard nicht länger halten können. Jetzt geraten sogar Facharbeiter und Führungskräfte in den Abwärtsstrudel.
So schnell geht es abwärts: Noch 1992 verdiente Heiner Sohl* als Leiter des Rechnungswesens einer 50-Mann-Firma in Hanau 8500 Mark im Monat. Der Betrieb machte pleite, sein Job war weg. Mehr als zwei Jahre lang bekam der Betriebswirt Arbeitslosengeld. 590 Mark pro Woche. In-zwischen gibt es nur noch 510 Mark wöchentliche Arbeitslosenhilfe. Und wenn der 53jährige nicht bald eine neue Stelle findet, landet er ganz unten in der Sozialhilfe. Bislang bekam er auf 80 Bewerbungen nur Absagen und natürlich 'gute Wünsche für die Zukunft'.
Die Angst geht um in Deutschland, die Angst vor dem Absturz. Und das nicht etwa unter jenen, die sowieso schon an der Grenze zur Armut herumkrebsen, sondern unter jenen, die das Fundament dieser Gesellschaft stellen: Fach- und Führungskräfte, die es zum gehobenen Lebensstandard mit einem Häuschen im Grünen und zwei Autos vor der Tür gebracht haben. Mittlerweile merkt nahezu jeder: Die Einschläge kommen näher. Wenn Siemens bis 1998 rund 2000 der 6000 Stellen im Bereich Medizinische Technik streicht, Daimler- Benz rund 1500 Jobs in der Konzernhierarchie überflüssig macht oder die Deutsche Bank das mittlere Management in den Frankfurter Zwillingstürmen verkleinert, fragen sich viele der verbleibenden Kollegen: 'Wann bin ich dran?' Für die, die es erwischt, brechen über Nacht ganze Lebensplanungen zusammen. Es ist etwa so, als ob mitten im Spiel die Regeln geändert werden. Denn bisher galt: Wer sich redlich mühte, qualifiziert war und Eifer zeigte, bekam auch seinen Teil vom Wohlstandskuchen ab. Er wurde ordentlich bezahlt, war im Krankheitsfall gut abgesichert, und im Alter wartete eine auskömmliche Versorgung aus Rente und Erspartem. Darauf ist nicht mehr länger Verlaß. In dem Maße wie die pyramidenförmig organisierten Industrie- und Dienstleistungsgiganten Arbeiten an billigere Standorte im Ausland verlagern oder, um im globalen Weltdorf mitzuhalten, wegrationalisieren, verschwinden hierzulande nicht nur die Jobs der gering Qualifizierten, sondern zunehmend auch die Arbeitsplätze der Mittelschicht. Die Zahl der Verlierer steigt. 'Jetzt sitzen die Beschäftigten in verschiedenen Booten, von denen eines rasch sinkt, ein anderes langsamer wird, während ein drittes flott vorankommt', beschreibt der Ökonom und US-Arbeitsminister der ersten Clinton -Regierung, Robert B. Reich, die Folgen der Globalisierung für die davon betroffenen Gesellschaften. Nach Schätzung von Werner Hübinger vom Frankfurter Institut für So-ialberichterstattung und Lebenslagenforschung (ISL) wird ein Viertel der Bevölkerung seinen Lebensstandard auf absehbare Zeit nicht mehr halten können. Ein Befund, der sich mit den empirischen Erhebungen von Stephan Leibfried vom Zentrum für Sozialpolitik an der Universität Bremen deckt, wonach 'das Armutsrisiko inzwischen weit in die sozialen Mittelschichten hineinreicht'. Die geraten in nahezu allen westlichen Industrieländern unter enormen Druck. In Frankreich etwa war in den vergangenen zwei Jahren jeder vierte Beschäftigte für kurze oder lange Zeit arbeitslos. England wurde unter Margaret Thatcher zu einer mittelschichtfreien Zone. In der Schweiz macht sich die Erkenntnis breit, 'daß unser Wohlstand an allen Ecken und Enden bedroht ist' (Weltwoche). Und da hilft es gut bezahlten Fachkräften, die bisher locker ihre Familie versorgen konnten, auch nicht mehr, wenn sie für den Erhalt ihrer Jobs auf Knien rutschen etwa bei der Hamburger Traditionsbrauerei Bavaria-St. Pauli. Dort bieten die Beschäftigten derzeit freiwillig Lohnkürzungen und Nachtarbeit im Gesamtwert von 25 Millionen Mark pro Jahr an. Es wird ihre Jobs nicht retten obwohl jetzt erstmals ein ganzer Stadtteil mobilmacht, weil die Menschen merken, daß ihr Quartier ins Elend rutscht. Wie verwundbar die Mitte der deutschen Gesellschaft geworden ist, hat Professor Jens Dangschat von der Hamburger Forschungsstelle für vergleichende Stadtforschung mit Daten aus Lohn- und Einkommensteuerstatistiken dokumentiert. Danach sind in der Millionenmetropole Hamburg der reichsten Region Europas in nur zehn Jahren Zigtausende finanziell und sozial abgestürzt. 'Fast alle Stadtteile der ehemaligen Mittelschichten', so der Sozialforscher, 'sind mittlerweile in den unteren Einkommensbereich abgerutscht.' Die Zeichen, daß das ungebremst so weitergeht, mehren sich. In 32 322 Fällen endete in der Republik 1996 der Traum von den eigenen vier Wänden vorzeitig wegen Zahlungsunfähigkeit; Immobilien im Rekordwert von rund 16 Milliarden Mark kamen unter den Hammer 20 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Die Verschuldung der Privathaushalte hat den Spitzenwert von 379 Milliarden Mark erreicht. Allein die Konsumentenkredite haben sich seit 1980 verdreifacht. Die Pfandhäuser melden von Jahr zu Jahr steigende Millionenumsätze. Das verfügbare Einkommen der meisten Haushalte hat sich seit 1980 nicht mehr erhöht. Im Gegenteil. Daten des Statistischen Bundesamtes zeigen: Die Haushaltsein-kommen von Arbeitern und Angestellten sind in den zurückliegenden Jahren um etwa zehn Prozent abgesackt. Lediglich die Selbständigen konnten ihre Einkommensposition um über 50 Punkte verbessern. Das Fundament die Arbeit, auf dem die soziale Marktwirtschaft mit dem Versprechen vom 'Wohlstand für alle' errichtet wurde, brökkelt. Den 40 Millionen Erwerbsfähigen wird immer weniger bezahlte und bezahlbare Arbeit angeboten. Seit den 60er Jahren hat das Arbeitsvolumen um fast 20 Prozent abgenommen von 56 Milliarden Stunden auf 45 Milliarden Stunden. Allein in der Produktion ging das Arbeitsangebot um über 40 Prozent zurück. Neue Zahlen des Statistischen Bundesamtes lassen eine noch nie dagewesene Job-Katastrophe befürchten. Während es bislang stets einen Zuwachs an Stellen gab, die allerdings im vergangenen Jahrzehnt von der Zahl der Arbeitsuchenden übertroffen wurde, ist die Zahl der Arbeitsplätze jetzt erstmals um 404 000 auf 34,5 Millionen gesunken. Damit zeichnet sich eine Spaltung der Gesellschaft ab, die viele an den Rand des Abgrunds treibt. Für viele, die fast ausschließlich von ihrer Hände Arbeit leben, gibt es immer weniger zu verdienen. Für jene, die dagegen Vermögen erwirtschaftet haben oder vererbt bekamen, winken Traumrenditen an den Finanzplätzen rund um die Welt. Inzwischen stammt jede dritte Mark aus sogenannten Vermögenseinkünften, wie etwa Mieten, Zinsen oder Dividenden. Anfang der achtziger Jahre war das noch jede vierte Mark. Der Großteil dieses sich selbst vermehrenden Reichtums gehört einer schmalen Schicht von etwa fünf Prozent der Bevölkerung. Dieses exklusive Grüppchen nennt 40 Prozent des gesamten Netto-Geldvermögens sein eigen, kassiert 36 Prozent der Zinsen und Dividenden und verfügt über 30 Prozent der Immobilien in Deutschland. Ob die sich aber lange auf ihrem Wohlstand ausruhen können, bezweifelt Percy Barnevik, Chef des Elektro- Multis Asea-Brown-Boveri (ABB). 'Nehmen wir die Herausforderung von drohender Armut und Arbeitslosigkeit nicht an', warnt der Top-Mann mit Weltgeltung, 'werden sich die Spannungen zwischen Besitzenden und Habenichtsen in Gewalt und Terrorismus entladen.' Auch der FDP-Ehrenvorsitzende Otto Graf Lambsdorff warnte in einer Rede vor der Mitgliederversammlung der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz bereits vor drohenden Eskalationen, 'wie wir sie seit Weimar nicht mehr erlebt haben'. Daß es so kommen wird, ist für den US-Ökonomen Ethan B. Kapstein vom Washingtoner Rat für Außenbeziehungen so gut wie ausgemacht: 'Die Welt treibt auf einen dieser tragischen Momente zu, die später Historiker zu der Frage veranlassen werden: Was hielt die Eliten eigentlich davon ab, diese globale soziale Krise zu verhindern?'
zurück zum Sommerseminar '97